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Leben

Depression erscheint auf den ersten Blick wie ein Zustand passiven Erleidens. Dem ist aber nicht so, wie man bei näherer Betrachtung sehen kann. Den meisten von uns fällt es ziemlich schwer, diesen Zustand näher zu betrachten.

Dazu eine Geschichte, die mir vor kurzem jemand erzählte: Sie handelt von Anton, der sich schwer, wie von einer großen Last auf seinen Schultern niedergedrückt, durchs Leben schleppt.

Tagaus, tagein erlebt er nur graue Farben und Kälte und miese Laune. Eines Tages will er nur mehr nach Hause und ins Bett. Er spürt zu deutlich, was er nicht mehr spüren möchte: bleischwere Müdigkeit, Ekel vor sich selber – und schlafen will er, am liebsten gar nicht mehr aufwachen! Er tappt in Richtung Schlafzimmer und wirft sich, noch voll bekleidet, auf das Bett. Da stößt er gegen etwas Kaltes, Glitschiges, nach Moor und Fäule Stinkendes. „Quak!!!", schnarrt es aufgebracht, mit einer dunklen, unkenden, durchdringenden Stimme. Wie von einer Tarantel gestochen springt Anton wieder aus dem Bett, zurück zur Tür. Er findet – breit auf seinem Bett sitzend – eine etwa ein Meter hohe dunkelbraune Kröte vor, die er, verständlicherweise, so schnell wie möglich aus seiner Wohnung entfernen möchte. Er versucht, sie mit allen Mitteln loszuwerden, doch schockiert muss er zur Kenntnis nehmen, dass dem Feind mit jeder Attacke ein neuer Kopf wächst und er an Größe gewinnt. Vieles, was man – in guter Absicht, um sich wohler und glücklicher zu fühlen – gegen ‚die Kröte Depression' unternimmt, bewirkt keine Besserung, sondern nur Verschlimmerung dieses Zustandes. Sich mehr zusammenreißen, mehr Disziplin entwickeln, mehr arbeiten, mehr laufen, mehr meditieren oder auch sich mehr ausruhen etc. – all das kann, wenn sich der Zustand erst einmal weit genug entwickelt hat, die Depression nicht mehr beseitigen. Zu lange wurschtelt man, wenn man zur Depression neigt, alleine dahin. Deswegen sind Depressionen, die dann Ärzte und Therapeuten in ihren Praxen sehen, meist keine leichten mehr.

Kleine Gedanken, kleine Kränkungen, kleine Misserfolge können schnell eine Lawine von Gedanken und sorgenvollen, resignativen Gefühlen auslösen, an die sich Empfindungen von bleierner Müdigkeit und Erschöpfung koppeln können. Der subjektive Eindruck, diesem Geschehen hilflos ausgeliefert zu sein, verfestigt sich mehr und mehr. Selbst wenn man ‚sich Ruhe gönnen' will, kommt man nicht zur Ruhe, denn unentwegt dreht sich die Mühle der Gedanken, mit denen man nach ‚Lösungen' sucht – aber auf diese Weise nicht findet, was wiederum weitere Gedankenströme zur Folge hat: „Ich habe versagt!" „Ich bin zu nichts mehr nütze!" „Mein Leben ist ein Chaos, ich werde es nie auf die Reihe kriegen!" „Es hat alles keinen Sinn mehr!" Ein großer Teil der Erschöpfung bei Depressionen ist durch dieses kraftraubende, sich häufig in Selbstvorwürfe und Selbstablehnung ergehende im Kreisdenken erklärbar. Aber auch der ganze depressive Zustand wird, wie Forschungsarbeiten in den letzten Jahrzehnten zeigten, von dieser Gewohnheit zu grübeln aufrechterhalten und verstärkt.

Der Kampf, sich durch Denken von diesem Leiden befreien zu wollen, nimmt einen zunehmend in diesem Leiden gefangen. Aber was tun? Wenn man sich schon so in seiner Lebensqualität und Leistungsfähigkeit eingeschränkt fühlt, dass man nur mehr dahinvegetiert oder resigniert, kann eine medikamentöse Behandlung eine hilfreiche Überbrückung sein. Aber als einzige Therapieform scheint sie, nach vorübergehenden Symptombesserungen, nur in häufige Rückfälle zu münden. Sich abwenden, mit welchen Mitteln auch immer, hilft auf die Dauer nicht weiter. Der erste Schritt eines nachhaltigeren Gesundungsprozesses besteht im Mut, sich dem leidvollen Geschehen sanft und aufmerksam zuzuwenden, es als momentane Gegebenheit zu akzeptieren und zu erforschen, was es verfestigt und aufrechterhält und was es wieder in Bewegung bringt und auflöst.

Depression

Wir sind mit einem für diesen Zweck vorzüglich geeigneten Werkzeug auf die Welt gekommen: der Fähigkeit, nicht nur denken, fühlen, empfinden und handeln zu können, sondern all das einfach zu registrieren, ohne sofort kategorisieren und bewerten und darauf reagieren zu müssen. Diese Fähigkeit wird Gewahrsein genannt und kann durch Training, mithilfe von Achtsamkeitsübungen, gestärkt werden. Das reflexartige Bekämpfen ‚der Kröte' beruht auf schwer erträglichen Emotionen und Fantasien. Ihnen standzuhalten bedarf einer neuen, ganzheitlicheren Perspektive, bedarf kontinuierlicher Ermutigung und einer Stabilisierung der Fähigkeit, mit allem, was gerade an emotionalen Qualitäten erlebbar ist, zunehmend präsent zu bleiben. In einem schwer depressiven Zustand braucht man in der Regel jemanden, die/der geschult und erfahren genug ist, das Schritt für Schritt zu entwickeln.

Die meisten werden anfangs psychotherapeutische Unterstützung benötigen. Die Entwicklung von Achtsamkeit und Gewahrsein im Rahmen einer therapeutischen Beziehung ermöglicht es mit der Zeit zunehmend, Gedanken einfach als Gedanken zu sehen und ihnen nicht zu schnell zu viel zu glauben und Emotionen als Emotionen zu fühlen und ihnen gastlich Raum zu geben, so dass sie sein dürfen, wie sie von Natur aus sind: leicht, beweglich und vital. Es ist nicht notwendig und nicht heilsam, ständig nach (biografischen) Ursachen der momentanen emotionalen Erfahrung zu suchen. Wesentlich ist, die Fähigkeit und Gewohnheit zu entwickeln, damit in Kontakt zu sein, immer wieder hinzuspüren, sie mit der Aufmerksamkeit zu berühren, dann wieder loszulassen und zurückzukommen zu einem gewählten Fokus. Im Fall der Depression erweist sich als hilfreich, zum Spüren der aufrechten Körperhaltung zurückzukommen. Sich körperlich aufzurichten hilft auch, sich innerlich aufzurichten. Zurückzukommen in das Hier und Jetzt, ohne Vereinnahmung durch eine Emotion oder Stimmung, kann durch das Richten der Aufmerksamkeit auf gegenwärtige Sinneswahrnehmungen gefördert werden. Beim achtsamen Weg durch die Depression sind Sanftheit, Sensitivität sich selbst gegenüber und Geduld – wie die eines Gärtners – Schlüssel zu einer nachhaltigen gesunden Entwicklung. Ebenso wichtig ist der Mut, sich immer wieder dem direkt zuzuwenden, was im inneren Erfahrungsraum vor sich geht. Kürzlich saß ein rundlicher, kleiner Mann, Mitte 40, vor mir und weinte, dass es seinen ganzen Oberkörper schüttelte. In den letzten Jahren hatte er einige schwere depressive Phasen überstanden.

Nun war es wieder so weit, aber diesmal ist er schon viel mehr Teilnehmer und aktiver Zeuge des Geschehens als ein sich zurückziehendes Opfer. Er weinte, weil er sah, wie er mit sich umgeht: „Jetzt lieg ich eh schon am Boden und dann tritt ich noch selber auf mich drauf!!" Er sah seine hohen idealisierten Ansprüche und seine Gewohnheit, sich für ‚Schwäche' und ‚Disziplinlosigkeit' – z.B. nicht regelmäßig zu meditieren – massiv abzuwerten. Er sah, dass er schon lange vor seinen depressiven Krisen so hart mit sich umgegangen war und wie diese Gewohnheit zu diesen Krisen beigetragen hat. Seine Tränen waren Ausdruck der Sanftheit und Wärme sich selbst gegenüber, erweckt und gewachsen in Krisenjahren durch mutig kultiviertes Gewahrsein der Vorgänge in ihm selbst und um ihn herum. Tränen flossen über den Fels und ließen ihn erblühen. Seiner Härte und seines Kampfes gegen sich selber gewahr, erblühte eine wache, weiche, heilsame Versöhnlichkeit und ein herzlicher Humor. Die alte, hässliche, strenge Kröte verwandelte sich in ein lächelndes Königskind.

Hans Kaufmann, geboren 1966, ist Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt er sich mit den Methoden von Yoga und Meditation. In diesem Zusammenhang begann auch seine Begegnung mit der buddhistisch inspirierten ‚Kontemplativen Psychologie'. Er gründete die Plattform IKH (Initiative zur Förderung Kontemplativer Disziplinen in Helfenden Berufen) und leitete den Aufbau für das ‚Windhorse-Projekt' in Österreich. Seit 1998 setzt er sich mit MSBR auseinander und leitet erfolgreich Seminare in Wien.
 

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Kommentare  
# Kikki 2019-11-23 13:27
:cry: Wie wahr... :-? Ich erkenne mich darin wieder!
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