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Achtsamkeit & Meditation

Nun weiß es auch die Wissenschaft, dass Achtsamkeit als wirksames Heilmittel gegen Stress eingesetzt werden kann. Eine wissenschaftliche Bewertung, ob der versprochene Effekt erzielt werden kann.

Achtsamkeit zur Stressbewältigung ist heute in aller Munde. Der Ursprung dieser Bewegung lässt sich relativ eindeutig auf die Entwicklung des achtwöchigen MBSR-Kurses durch den Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn Ende der 1970er Jahre in den USA zurückverfolgen. In den USA hatte sich damals die buddhistische Lehre in einem neuen Kontext verbreitet. Bedingt durch Reisen in den südasiatischen Raum, sei es durch Mitarbeit im Peace Corps oder aus Flucht vor dem Militärdienst, kamen dort viele junge AmerikanerInnen einer intellektuellen Oberschicht mit dem Buddhismus in Kontakt. Einige von ihnen brachten die buddhistische Lehre zurück in die USA, wo sie bedingt durch den damaligen sozialen Aufbruch (Hippie-Bewegung, Widerstand gegen den Vietnamkrieg, ...) auf fruchtbaren Boden fiel. Jon Kabat-Zinn erkannte den potenziellen Nutzen der buddhistischen Herangehensweise, mit Leiden und schwierigen Situationen umzugehen. Er hatte die Idee, dass diese Strategien, wenn sie aus dem religiösen buddhistischen Kontext herausgelöst (säkularisiert) werden, auch Menschen von Nutzen sein könnten, die keine buddhistische Orientierung aufwiesen.

Achtsamkeit zur Stressbewältigung ist heute in aller Munde.

Das MBSR-Programm war dabei von Anfang an – dem buddhistischen Ansatz gemäß – allgemein ausgerichtet. Es diente sowohl PatientInnen als auch Gesunden, und Kabat-Zinn fasste diesen weiten Anwendungsbereich unter dem Begriff der Stressbewältigung zusammen. Durch das Vorliegen eines detaillierten Manuals für MBSR war auch der Startschuss für die wissenschaftliche Evaluation dieser Intervention gegeben. Denn im Unterschied zu bisherigen Versuchen, Meditation zum Beispiel in klinische Anwendungen zu integrieren, lag hier ein klar beschreibbares und auch wiederholbares Programm vor. So beruht ein Großteil der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zusammenhang von Achtsamkeit und Stressbewältigung heute auf der umfangreichen Untersuchung des MBSR-Programms und seiner zahlreichen Abwandlungen.
Was versteht man nun aber genau unter Stress? Allgemein geht man dabei von einer Bedrohungssituation aus. Das archaische Modell vor allem der physiologischen Stressreaktion ist die Bedrohung des Menschen, zum Beispiel durch einen Tiger. Solche Bedrohungen sind in unserer modernen Gesellschaft natürlich selten. Hier greift eine eher psychologisch formulierte Stressdefinition. Demnach handelt es sich bei Stress meist um den Umstand, dass man für die an einen gestellten Anforderungen nicht über die notwendigen Ressourcen verfügt. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich die mir von meinem Arbeitgeber gestellten Aufgaben (Anforderungen) nicht in der mir zur Verfügung stehenden Zeit (Ressourcen) leisten kann, dann folgt daraus ein Stresserleben. Alternative kann es aber auch sein, dass ich die Zeit dafür habe, es mir aber an den Kompetenzen fehlt, auch das würde Stress erzeugen. Die Schlüsselfrage für jedes Stresserleben lautet daher: Habe ich die Bewältigungskompetenzen? Habe ich das Vertrauen in mich, dass ich mit dieser Anforderung umgehen kann? Stressbewältigung kann in diesem Modell an zwei Seiten ansetzen. Zum einen auf der Anforderungsseite und dies kommt uns meist zuerst in den Sinn. Zum anderen aber auch an den eigenen Bewältigungskompetenzen und dies ist der Ansatz einer achtsamkeitsbasierten Stressbewältigung.
Eine achtsame Grundhaltung ist meist inkompatibel mit typischen Stressreaktionen. So verliert man sich im Stress meist im Klein-Klein und hat keinen Blick mehr für das große Ganze. Der Geist schaltet in einen absorbierten Tunnelmodus und nimmt kaum noch Signale aus der Umgebung oder aus dem eigenen Körper wahr. Auch sind wir im Stress vorwiegend mit Abwehr und Widerstand konfrontiert und wenden dafür viel Energie auf, das macht den Stress so zehrend. Und natürlich ist Stress auch hochemotional, meist gekoppelt mit nur wenig Einsicht in den eigenen emotionalen Zustand. Katastrophisierende Gedanken und Grübeln tun ein Übriges. Es wird deutlich, dass die Haltung einer bewussten Präsenz und Akzeptanz, wie man sie in der Achtsamkeit übt, vielen dieser Stressreaktionen entgegenwirkt. Allerdings muss man durch regelmäßiges Üben auch in der Lage sein, sich an diese Haltung in schwierigen Situationen erinnern zu können. Achtsam zu sein, wenn man sich sicher fühlt, Ruhe und Zeit hat, ist einfach. Dies auch zu praktizieren, wenn man sich im Netz der Stressreaktion verloren hat, hingegen eine große Kunst.
Die vielfachen Untersuchungen des MBSR-Programms haben gezeigt, dass dies auch tatsächlich gut funktioniert. Untersucht werden die Effekte von MBSR vorrangig mit Fragebögen. Neben allgemeinen Fragebögen zum Stresserleben kommen hier Instrumente zum Einsatz, die die vielfältigen Dimensionen der Stressreaktion abbilden, zum Beispiel Depression, Ängstlichkeit, negative Emotionen oder auch entgegengesetzte Konstrukte wie positive Emotionen, Lebenszufriedenheit oder Lebensqualität. Eine große Metaanalyse, die den Effekt von MBSR und Meditation generell bei gesunden ProbandInnen aus mehr als 160 einzelnen Studien zusammengefasst hat, zeigt mittelgroße Effekte vor allem für die emotionalen Parameter (Angst, Depression, negative Emotionen). Damit ist klar, dass achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung kein Allheilmittel ist, aber doch einen gut abgesicherten, soliden Effekt hat, der zum Beispiel mit dem Effekt vieler psychotherapeutischer Verfahren gleichzusetzen ist. Somit ist das Spektakuläre dieser Verfahren nicht, wie man meinen könnte, eine riesige Wirksamkeit, sondern dass sie in relativ kurzer Zeit (8 Wochen) mit einem relativ allgemeinen Ansatz, der nicht auf ein spezifisches Problem zugeschnitten ist, die gleichen Effekte erzielen wie viele hoch spezialisierte, komplexe und aufwendige Verfahren. Man könnte auch sagen, dass hier ein generischer Ansatz gefunden wurde, der es ermöglicht, mit den vielfältigen und komplizierten Problemen einer immer komplexer werdenden Welt einen Umgang zu finden, ohne selbst dabei wieder auf immer kompliziertere Lösungsideen zurückzugreifen. Ein Sieg der Einfachheit über die Komplexität.
Was wirkt dabei nun aber eigentlich? Wir haben zwar relativ genaue Vorstellungen und Modelle, wie Akzeptanz oder achtsamkeitsbasierte Emotionsregulation Stress entgegenwirkt, aber im Falle des MBSR-Programms wissen wir nach wie vor nicht, ob es auch wirklich die spezifische Praxis der Achtsamkeit ist, die zu diesen Effekten führt. Die Forschung hat hier das Problem, dass ein MBSR-Kurs neben der reinen Achtsamkeitspraxis auch zu vielen anderen Veränderungen im Leben der TeilnehmerInnen führt. Man geht regelmäßig in den Kurs, man übt zu Hause, strukturiert seinen Alltag neu, man befindet sich im intensiven Austausch mit anderen KursteilnehmerInnen und all dies könnte ebenfalls zu den gemessenen Veränderungen führen. Um den Effekt dieser ‚Begleitumstände‘ von denen der reinen Achtsamkeitspraxis trennen zu können, müsste man einen MBSR-Kurs mit einem zweiten Kurs vergleichen, in dem die TeilnehmerInnen ähnlich aktiv sind, üben und sich austauschen, aber nicht mit dem Achtsamkeitskonzept in Kontakt kommen. Dies wurde in klinischen Studien schon vereinzelt untersucht, ist aber sehr schwierig umzusetzen, insbesondere, wenn es um die Frage der Motivation zur Übung geht. Oft führen ja Sinnerleben und Einsicht in den achtsamkeitsbasierten Zugang dazu, dass die TeilnehmerInnen regelmäßig üben. Die bisherigen Vergleiche zwischen MBSR und solchen ‚aktiven Kontrollgruppen‘, zum Beispiel dem Erlernen von Entspannungstechniken, zeigen keine Überlegenheit des achtsamkeitsbasierten Vorgehens, aber hier ist das letzte Wort sicherlich noch nicht gesprochen.

Eine achtsame Grundhaltung ist meist inkompatibel mit typischen Stressreaktionen.

Während also wissenschaftlich der positive psychologische Effekt des MBSR-Programms als Ganzes mittlerweile gut gesichert ist, wird in der interessierten Öffentlichkeit meist nach Forschungsarbeiten zu ‚Achtsamkeit und Gehirn‘ gefragt. Hier ist ein gewisser Neuromythos zu beobachten. Offensichtlich gilt es als wissenschaftlicher und spektakulärer, wenn Effekte von Meditation selektiv im Gehirn nachgewiesen werden, als wenn dadurch das psychologische Erleben des Menschen als Ganzes verändert wird. Auch hier scheint also der Zeitgeist zu Buche zu schlagen, dass man sich vom Verständnis des Gehirns Fundamentales erhofft, während der reale Output oft ernüchternd ist. Das häufig verkannte Problem ist, wie man die in der Tat oft spektakulären Erkenntnisse der Hirnforschung auf unser Erleben überträgt. Denn nach wie vor ist es wissenschaftlich vollkommen ungeklärt, wie Hirntätigkeit und Erleben zusammenhängen, das sogenannte Leib-Seele-Problem. Das, was für uns im Alltag bedeutsam ist, ist aber immer unser inneres Erleben: unser Leiden, unsere Emotionen, unser Schmerz, unsere Gedanken. Die Hirnforschung kann zwar herausfinden, was bei Schmerz- oder Stresserleben im Gehirn passiert, aber wenn es dann konkret an den Punkt kommt, was diese Erkenntnisse für unser Erleben bedeuten, taucht ein sehr großer Interpretationsspielraum auf.
Wissenschaft ist in unserer heutigen Gesellschaft oft eine Instanz, die eine kollektive Sinnstiftung ermöglicht. Ein bestimmter Umstand ist erst dann umfassend gültig und wahr, wenn er das Etikett ‚wissenschaftlich nachgewiesen‘ trägt. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer vorläufig und können auch falsch sein. Der Nobelpreisträger Linus Pauling sagte: „Wissenschaft ist Irrtum auf den letzten Stand gebracht.“ Auch bieten wissenschaftliche Daten oft vielfältige Interpretationsmöglichkeiten und erst ihre Deutung macht diese Daten ja für uns relevant. Die Praxis der Achtsamkeit lehrt, den Fokus zurück auf das eigene Erleben zu richten. Dies ist eines ihrer Erfolgsrezepte. Viele PatientInnen versuchen, ihren Gesundheitszustand aus Röntgenbildern und ärztlichen Befunden herauszulesen, aber objektives Symptom und subjektives Erleben sind zwei Paar Stiefel. Im klinischen Bereich haben sich achtsamkeitsbasierte Ansätze vor allem deshalb als erfolgreich erwiesen, weil sie den Fokus auf Krankheitserleben und Krankheitsbewältigung gerichtet haben. 

Ein Sieg der Einfachheit über die Komplexität.

Aber wie die Wissenschaft so kann auch der Achtsamkeitsboom selbst kritisch betrachtet werden. Letztendlich ist zu vermuten, dass das Bedürfnis nach meditationsbasierten Stressbewältigungsstrategien aus der immer schneller werdenden sogenannten sozialen Beschleunigung resultiert. Man kann diesen Boom also auch als die Selbstregulationsstrategie einer Gesellschaft begreifen, die ihre eigene Nachhaltigkeit in einer kapitalismusgetriebenen Beschleunigung verloren hat. Nun haben aber Selbstregulationsstrategien immer einen stabilisierenden Charakter. Das hieße dann, wir bräuchten Meditation, weil wir sonst das Tempo unserer Wirtschaft und unserer sozialen Interaktionen gar nicht mehr ertragen könnten, ohne krank zu werden. Die Firma schickt also die MitarbeiterInnen zur achtsamkeitsbasierten Stressbewältigung, um die Schlagzahl und Umsatzrendite zu erhöhen. Denkt man diesen Gedanken konsequent weiter, dann gehört es bald zum guten Ton oder wird sogar zur Notwendigkeit, sich mittels Achtsamkeit leistungsfähig zu halten. So werden Achtsamkeit und Meditation funktionalisiert. Die Bewältigung des Stresses, der im System und in der Gesellschaft entsteht, wird auf die individuelle Ebene verlagert und muss von jedem Einzelnen privat geleistet werden.
Wieso droht die Gefahr einer solchen Entwicklung, die ja der ursprünglichen Intention von Buddhismus und Achtsamkeitspraxis fundamental entgegensteht? Der Schlüsselpunkt ist die Motivation, mit der die Praxis ausgeführt wird. Die Motivation einer Achtsamkeitspraxis im buddhistischen Kontext als integraler Bestandteil des Achtfachen Pfades ist eine spirituelle. Mit spirituell ist hier gemeint, dass die Motivation über die eigenen Interessen hinausreicht und das Wohl anderer oder ein höheres Gemeinwohl mit einschließt. Wenn es neben der Säkularisierung der Praxis nun aber auch zu einer Säkularisierung der Motivation kommt, geht der heilsame Aspekt der Achtsamkeit verloren. Sie wird dann zu einer ich-zentrierten Selbstoptimierungsstrategie oder wird von Institutionen zum eigenen Nutzen missbraucht. Bleibt aber die weiter reichende spirituelle Motivation erhalten, dann könnte die Achtsamkeitswelle zu einem heilsamen Umdenken in unserem sozialen Miteinander führen und einen maßgeblichen Beitrag leisten, eine aus den Fugen geratene Welt wieder menschlicher werden zu lassen. Momentan scheinen in vielen praktischen Anwendungen der Achtsamkeit beide Motivationen verwirklicht, mal mehr die nutzenorientierte, mal mehr eine spirituelle. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Letztere auf Dauer durchsetzen wird.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 90: „Achtsamkeit und Stressbewältigung"

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Prof. Dr. Stefan Schmidt ist Psychologe und forscht am Universitätsklinikum Freiburg seit mehr als zehn Jahren zu den Themen Achtsamkeit und Meditation. Er führt Studien an Meditierenden im EEG-Labor durch, aber auch mit PatientInnen und an Schulen. Gleichzeitig lehrt er im berufsbegleitenden Masterstudiengang Kulturwissenschaften und Komplementäre Medizin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
 
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Kommentare  
# Uwe Meisenbacher 2018-01-22 12:03
Wenn Meditation und Achtsamkeit für ein Wirtschaftssystem in dem Ethik, Moral und
Gemeinwohl keine Rolle spielen, praktiziert wird, und in dem Gewinnmaximierung oberste Priorität besitzt, werden die Menschen die das praktizieren, missbraucht und dienen der Diktatur der Gewinnmaximierung.
Sie verhindern eine soziale und umweltverträgliche Ökonomie: Sie machen Reiche reicher und Arme ärmer und zerstören die für uns lebensnotwendige natürliche Umwelt.
Durch die Diktatur der Gewinnmaximierung, praktizieren die Menschen eine globale Selbstzerstörung.
Sie vernichten die globalen natürlichen Lebensgrundlagen ( Ökosysteme ) , ohne die die Menschen auf diesen Planeten Erde nicht mehr leben können.
Wer hier den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht erkennen kann oder will, der muss schon sehr verblendet sein.

Buddhas Pfad der Weisheit „mache das Heilsame , lasse das Unheilsame und ent-
wickle deinen Geist“, ist eine gut praktizierende Anleitung und das nicht nur
für Buddhisten.


Mit freundlichen, achtsamen, frei von Gewinnmaximierung, heilsamen buddhistischen Grüßen, auf eine bessere Zukunft.
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# Uwe Meisenbacher 2018-01-22 15:07
Achtsamkeit und Meditation müssen immer im Kontext mit Ethik, Moral und Gemeinwohl praktiziert werden, sonst können sie nicht heilsam sein.
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