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Leben

Ein bescheuerter Titel. Sie sollten nicht weiterlesen. Außer Sie sind neugierig, dann vielleicht doch. Aber so viel schon vorweg: Ob man durch einen klaren Geist zu einem besseren Leben kommt, das werden Sie hier nicht erfahren.

Wenn sich alte Schulmeister mit einem Thema beschäftigen, dann pflegen sie sich zunächst einmal die Wörter, die in dem Thema vorkommen, genauer anzuschauen. Warum nicht auch wir?

Also erstens: Was kann man sich vernünftigerweise unter einem ‚klaren Geist' vorstellen? Eine von einem findigen Science-Fiction-Autor erfundene pseudo-christliche, pseudo-intellektuelle Pseudo-Sekte, die früher ‚Christian Science' hieß und sich nach mehreren Strafverfolgungen in ‚Dianetics' umbenannt hat, bezeichnet als ‚clear' die Personen, die schon sehr viel Geld in Kurse investiert haben, in denen sie etwas lernen, von denen die kassierenden Kursleiter versichern, dass es mit geistiger Klarheit zu tun hat. Das erinnert stark an Ferdinand Raimunds Fortunatus Wurzel im ‚Bauer als Millionär', der, plötzlich reich geworden, nunmehr auch gescheit werden möchte und von einem findigen Arzt eine Medizin erhält, die ihn gescheit machen wird. Beweis: Wenn er sehr viele tausend Gulden in viele Fläschchen der Medizin investiert haben wird, dann wird es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fallen und er wird erkennen, was für ein dreidoppelter Narr er gewesen ist. Ob ihm diese Klarheit zu einem besseren Leben verhilft? – Abwarten: Noch haben wir uns mit dem Begriff des ‚besseren Lebens' nicht beschäftigt. Bei Ferdinand Raimund jedenfalls endet er als Aschenmann, und das ist nach landläufiger Auffassung ganz sicher kein besseres Leben als das eines Millionärs.

Ist ein besseres Leben eines, in dem man sich möglichst viele Wünsche erfüllen kann?

Was also kann man sich vernünftigerweise unter einem ‚klaren Geist' vorstellen? – Ist es das, was übrig bleibt, nachdem man einige gröbere Dummheiten, die man begangen hat, als solche diagnostiziert hat? Oder ist es vielleicht das, was die alten Römer als ‚mens sana', als ‚gesunden Geist', bezeichnet haben, der angeblich mit Vorliebe in einem gesunden Körper wohnen soll? Ist es eher ein intellektuelles Konzept, oder eher ein spirituelles, oder vielleicht eher ein irgendwie psychologisches? Oder ist es vielleicht doch das, was dabei herauskommt, wenn man viele teure Selbstfindungsseminare besucht hat?

Wenn wir davon ausgehen, dass nicht alle Gurus Scharlatane sind, sondern dass es auch Personen gibt – egal, ob sie sich Gurus nennen oder irgendwie anders –, die auf der Suche nach etwas sind, das in Worten schwer zu fassen ist, aber doch Antworten beinhaltet auf die Fragen, die, weil sie so wichtig sind, in Worten ebenfalls kaum zu fassen sind, und wenn wir diesen Personen eine gewisse Authentizität zutrauen, dann sind diese Personen ein Hinweis darauf, dass es da etwas gibt, wonach Menschen suchen, und zwar offenbar schon seit vielen Jahrtausenden, das sich nur sehr schwer ausdrücken lässt. Menschen versuchen es mit Worten, mit Bildern, mit spirituellen Übungen und nehmen für gewöhnlich schmerzlich wahr, dass diese letzten Wahrheiten, wie sie etwas hilflos auch gern genannt werden, eben nicht so wirklich kommunizierbar sind. Wenn wir den klaren Geist als die Erkenntnis dieser letzten Wahrheiten auffassen, dann wäre er eine Art religiöses Konzept, eine Art Ur-Sehnsucht der Menschheit. 

Unter einem ‚guten Leben' kann man sich eine ganze Menge vorstellen, und so ziemlich jeder stellt sich etwas anderes darunter vor.

Nun gut. So viel, oder auch so wenig, zum ‚klaren Geist'. Was aber sollen wir uns unter einem ‚besseren Leben' vorstellen? Ist ein besseres Leben eines, in dem man sich möglichst viele Wünsche erfüllen kann? Oder eines, in dem man möglichst wenige Wünsche hat? Oder eines, in dem man möglichst viel als ‚guter Mensch' gelobt wird? Oder eines, in dem es einem vollkommen egal ist, ob einen jemand lobt oder nicht? Sicher ist: Unter einem ‚guten Leben' kann man sich eine ganze Menge vorstellen, und so ziemlich jeder stellt sich etwas anderes darunter vor. Es gibt wahrscheinlich auch Weltgegenden, in denen sich alle dort Lebenden dasselbe darunter vorstellen, und das Leben in diesen Gegenden ist wahrscheinlich nicht sehr gut.

Leben

Im vierten von den zehn christlichen Geboten heißt es: „Du sollst deine Eltern ehren, auf dass du lange lebest und es dir wohl ergehe auf Erden." Jetzt mal ehrlich: Warum will Gott, dass wir unsere Eltern ehren, wo doch Jesus selbst mit seinen Eltern vermutlich eher nachlässig umgegangen ist? „Weib, was ist zwischen dir und mir", oder so ähnlich, hat er zu seiner Mutter angeblich gesagt. Und dass man seine Familie verlassen und ihm nachfolgen soll, spricht auch nicht für den ganz großen Familiensinn. In der Begründung der Vorschrift vom ‚Eltern ehren' steht auch nichts davon, dass der liebe Gott das so will. Sondern der ehrenden Person selber wird ‚Wohlergehen' versprochen. Das hat eine gewisse Logik. Psychologen sagen uns, dass Akzeptanz durch die Eltern eine wichtige Voraussetzung für psychische Gesundheit ist. (Wäre psychische Gesundheit am Ende so etwas Ähnliches wie ein klarer Geist?) Akzeptanz durch jemanden, den man selber nicht akzeptiert (‚ehrt'), ist aber stark entwertet und verliert damit die Heilkraft. Das vierte Gebot wirkt damit eher wie eine Lebensregel, weniger wie eine göttliche Vorschrift. Mit den sieben Todsünden ist das ähnlich. Neid, Hass, Geiz sind Hobbys, die gut dazu geeignet sind, dem, der sie hat, das Leben schwer zu machen. Ist also die Klarheit des Geistes vielleicht doch eher in einem moralischen Sinn zu verstehen, vielleicht eher als Abkehr vom Irdischen, als Verzicht auf das ‚Mehr von allem'? Und ist vielleicht dann das ‚gute' Leben das logische Ergebnis dieses ‚klaren' Geistes?

Die Weltliteratur ist voll von Beispielen, in denen irgendein armer Hund plötzlich reich geworden ist, den Kontakt zu sich selbst und allem, was ihm bisher wichtig gewesen ist, verloren hat und am Ende ziemlich elend zugrunde gegangen ist. Auch einer der Vorväter der Soziologie, Emile Durkheim, hat allzu plötzlichen Wirtschaftsaufschwung als einen Fall von Anomie, Verfall von Orientierungen, beschrieben, der zu einer Häufung von psychischen Problemen führe, ablesbar an steigenden Selbstmordzahlen. Dass ein ‚gutes Leben' vernünftigerweise nicht als ein Leben im Überfluss definiert werden kann, so viel wenigstens dürfte einigermaßen erwiesen sein. Dass das erlösende Nirwana im Abklingen aller Wünsche, Begierden und Hoffnungen bestehen soll, ist, so gesehen, eine logische Konsequenz aus den meisten christlich-abendländischen Erkenntnissen (und nicht nur aus diesen).


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 91: „Mit Buddha zum Glück"

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Psychologen sagen uns, dass Akzeptanz durch die Eltern eine wichtige Voraussetzung für psychische Gesundheit ist.

Es ist schon eigenartig mit den schlampigen Begriffen, die alles Mögliche bedeuten können. Als Instrumente der Kommunikation, so möchte man meinen, sind sie ziemlich unbrauchbar, weil sich jeder das darunter vorstellt, was er möchte. Als Instrumente der Gemütlichkeit sind sie aus genau diesem Grund sehr praktisch. Jeder möchte ein gutes Leben, und darin sind wir uns einig. In Wirklichkeit besteht die Einigkeit darin, dass wir darauf verzichten zu beschreiben, was ein gutes Leben für jeden von uns bedeutet. Wir prosten uns zu auf etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist, und es möglicherweise auch gar nicht so genau wissen wollen. Freilich kann so etwas auch schiefgehen, wie die uralte Geschichte von den zwei streitenden Juden zeigt, denen der Rabbiner auferlegt: „Ihr müsst euch versöhnen. Ein so lang andauernder Streit, das geht nicht." Also streckt der eine dem anderen nach dem Besuch der Synagoge die Hand hin und sagt: „Ich wünsch dir alles, was auch du mir wünschst!" Darauf der andere: „Fängst du schon wieder an?"

Neid, Hass, Geiz sind Hobbys, die gut dazu geeignet sind, dem, der sie hat, das Leben schwer zu machen. 

So viel dürfte sicher sein: Was wir uns unter einem ‚klaren Geist' vorzustellen haben, ist sehr unklar. Was wir uns unter einem ‚guten Leben' vorzustellen haben, ist noch viel unklarer. Ob also ein klarer Geist zu einem besseren Leben führt? Keine Ahnung. Aber die Suche nach einer Idee, was ein klarer Geist sein könnte, führt vielleicht auch zu einer Idee, worin ein besseres Leben bestehen könnte.

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit 2012 macht er alles andere.

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Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit ...
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