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Leben

Darwin prägte die Begriffe ‚Kampf ums Überleben‘ und ‚Überleben des Stärksten‘. Sind diese Begriffe in der Übersetzung falsch ausgelegt worden und hat Kooperation im Pflanzen- und im Tierreich auch Vorteile?

Am 24. November 1859 erschien im Verlag John Murray in London ein Buch mit einem langen Titel, der auch schon eine kurze Inhaltsangabe war: ‚On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life‘. Autor war der bekannte britische Naturforscher Charles Darwin. Die erste Auflage von 1.250 Exemplaren war sofort vergriffen und die darin publizierten Gedanken zum ‚Ursprung der Arten‘ erschütterten die Grundfesten der damaligen Weltsicht. Nach der vorherrschenden christlichen Glaubenslehre war die Erde mit all ihren Lebewesen in sieben Tagen und nach göttlichem Plan entstanden. Darwin hingegen legte in seinem Werk zahlreiche Beweise vor, die belegten, dass alle Tier- und Pflanzenarten von gemeinsamen Vorfahren abstammten und dass sich diese nur durch natürliche Selektion und Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen im Laufe sehr langer Zeiträume quasi ‚von selbst‘ entwickelt hätten.

Erfolg in der Natur ließe sich nur an Siegen in einem mörderischen Existenzkampf messen.

Die Vorstellung, dass keine göttliche Kraft für die Vielfalt des irdischen Lebens verantwortlich sei, sägte in letzter Konsequenz auch am Führungsanspruch der ‚von Gott eingesetzten‘ Königs- und Kaiserhäuser. Diese Diskussion über ‚planloses‘ Leben wird von der katholischen Kirche auch noch 150 Jahre nach Erscheinen dieses Buches unter dem Titel ‚intelligentes Design‘ geführt.
Doch nicht nur kirchliche und weltliche Autoritäten hatten Probleme mit dieser Evolutionstheorie. Die Folgen der industriellen Revolution hatten tiefe Gräben in der Gesellschaft hinterlassen und Intellektuelle und Künstler auf den Plan gerufen. So standen über Religions-, Generations- und ethnische Grenzen hinweg zwei bedeutende Männer in regem Gedankenaustausch. Der russische Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, der sich in seinen letzten Lebensjahren zu einem Vertreter christlicher Gewaltlosigkeit entwickelt hatte, schrieb an den jungen Mahatma Gandhi, der sich zu dieser Zeit in Südafrika für die Rechte indischer Migranten einsetzte:
„Der gleiche Kampf der Sanftmütigen gegen die Grausamen, der Milde und Liebe gegen Hochmut und Gewalt wird auch hier unter uns von Jahr zu Jahr spürbarer.“

Survival of the Fittest‘, das fälschlich mit ‚Überleben des Stärksten‘ übersetzt wurde.


Darwins Theorie mit ihrem ‚Kampf ums Dasein‘ schien hingegen die ‚Natürlichkeit‘ des auch verdrängenden Wettbewerbs direkt zu belegen und zu rechtfertigen. Man warf dem Darwinismus vor zu behaupten, Erfolg in der Natur ließe sich nur an Siegen in einem mörderischen Existenzkampf messen. Im englischen Original spricht Darwin von ‚struggle‘, also eher einem Ringen um die begrenzten Ressourcen: „Wenn eine Pflanze am Rande der Wüste alles versucht, mit dem vorhandenen Wasser auszukommen, dann ringt sie ums Überleben.“ Dies wird in der ‚Entstehung der Arten‘ als erstes Beispiel für den ‚Struggle for Existence‘ in der Evolution angeführt.
Nachdem Darwin die deutsche Übersetzung seines Werkes gelesen hatte, schrieb er 1869 dem in Deutschland lehrenden Physiologen William Preyer:
Mein Deutsch ist leider nicht besonders gut. Was den Ausdruck ‚Struggle for Existence‘ betrifft, hatte ich immer Zweifel. Ich würde annehmen, dass der deutsche Ausdruck ‚Kampf‘ nicht ganz die gleiche Idee vermittelt.“
Und auch noch ein weiterer Schlüsselbegriff aus seinem Werk wurde und wird falsch ausgelegt: ‚Survival of the Fittest‘, das – fälschlich übersetzte – Überleben des Stärksten ist Grundlage für immer wieder auftauchende sozialdarwinistische Theorien. Dabei stammt dieser Ausdruck gar nicht von Darwin selbst, sondern von dem englischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer. Dem eigentlichen Sinn entsprechend, versteht man darunter das Überleben des an die Umweltbedingungen am besten angepassten Organismus, aber keineswegs des physisch stärksten oder sogar des rücksichtslosesten Lebewesens.

Gerne werden Vampirfledermäuse als Beispiel für sogenannten reziproken Altruismus, also wechselseitige Selbstlosigkeit, angeführt.


Diese beiden sehr bildhaften Begrifflichkeiten entfachten in der Folge eine jahrzehntelange erbitterte Diskussion. Thomas Henry Huxley, Darwins wichtigster Schüler, veröffentlichte einige bedeutende Essays über diese kämpferische Sichtweise auf die Natur:
„Vom Standpunkt des Moralisten aus steht die Tierwelt etwa auf dem Niveau einer Gladiatorendarbietung. Die Lebewesen werden (...) auf den Kampf vorbereitet, in dem dann der Stärkste, Schnellste oder Listigste am Leben bleibt, um am nächsten Tag erneuert zu kämpfen. Der Zuseher braucht den Daumen nicht zu senken, denn Pardon wird es nicht geben.“
Doch Huxley verweist darauf, dass eine menschliche Gesellschaft, in der alle gegen alle kämpfen, in Anarchie und Unglück versinken muss. Seiner Ansicht nach dürfen die Wirkungsweisen der Natur gerade wegen dieser Konflikte kein Vorbild für das moralische Handeln des Menschen sein.

kämpfenEinen anderen Blick auf die Zusammenhänge in der Natur entwickelte der russische Revolutionär und Anarchist Pjotr Kropotkin. In seinem Buch ‚Mutual Aid‘ (‚Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung‘) legt er die Theorie dar, dass der Kampf ums Dasein meist nicht zu Konflikten, sondern vielmehr zu gegenseitiger Hilfe führt. Das ist auch ideengeschichtlich sehr interessant, denn Russland war im 19. Jahrhundert zum größten Teil eine sehr raue Gegend, wo der Wettbewerb darin bestand, dass Menschen sich eher gegen die harten klimatischen Bedingungen behaupten mussten als im unmittelbaren Konflikt gegeneinander.
Die seltsame Lebensform der Flechten, die den kargen Bedingungen der Taiga erfolgreich trotzen, wurde als Paradebeispiel angeführt: eine symbiotische Lebensgemeinschaft zwischen einem Pilz und einer Grünalge. Der Vorteil für den Pilz besteht darin, dass er von der Alge mit Nährstoffen versorgt wird, welche diese durch Photosynthese bildet. Die Alge wiederum wird vom Pilzgeflecht vor Austrocknung und Ultraviolettstrahlung geschützt.

‚Natur‘ ist weder gut noch böse.


Diese Idee der Unterstützung passte auch ideologisch besser zu den slawischen Werten des Kollektivismus und war in den Ländern der Sowjetunion auch weit verbreitet. Ein wissenschaftlicher Diskurs über diese Theorie fand aufgrund sprachlicher und politischer Gräben nie statt.
Auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erscheinen regelmäßig Publikationen über Forschungsarbeiten, die einmal Wettbewerb, dann wieder Kooperation als das bestimmende Prinzip in der Natur erkannt und bewiesen haben wollen.

Gerne werden Vampirfledermäuse als Beispiel für sogenannten reziproken Altruismus, also wechselseitige Selbstlosigkeit, angeführt. Mindestens alle drei Tage brauchen Vampirfledermäuse (Desmodus rotundus) eine Blutmahlzeit, doch nicht jedes Tier ist dabei erfolgreich. In diesem Fall würgen die erfolgreichen Artgenossen Blut heraus und überlassen es den Hungrigen. Jene Tiere, die ihre Blutbeute nicht teilen, erhalten in Zukunft dann aber auch von den anderen Koloniemitgliedern nichts mehr und sterben häufiger an Nahrungsmangel.
Dieser und anderen Beschreibungen des altruistischen Handelns in der Natur folgt aber immer auch eine mathematische Betrachtung, die zahlenmäßig belegt, dass dieses unterstützende Verhalten für die ‚Gesamtfitness‘ der Population günstiger ist. In anderen – und das sind die meisten Beziehungen zwischen Lebewesen – ist egoistisches Verhalten vorteilhafter.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 94: „Ein gutes Leben"

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Können wir aus diesem Beispiel etwas für unser menschliches Handeln lernen? Nein, denn ‚Natur‘ ist weder gut noch böse. Diese Wertungen treffen wir und selbst da unterscheiden wir je nach Perspektive des Täters oder des Opfers, wie ich in meinem Essay über Grausamkeit in Ursache\Wirkung №. 92 ausgeführt habe.
Die hier im Titel etwas provokant gestellte Frage, ob man für ein gutes Leben kämpfen müsse, möchte ich nicht mit den Worten eines Zoologen, sondern mit der Poesie des Schriftstellers Elias Canetti beantworten: „Wir sind Menschen, weil wir nicht nur aus unseren Augen und unserem Hirn auf die Welt schauen können. Weil wir uns erbarmen können, weil wir alle Dichter sind und uns alle verwandeln können.“ 

Peter Iwaniewicz ist Biologe und Journalist. Er unterrichtet an der Universität Wien Wissen-schaftskommunikation und ist Autor zahlreicher Bücher.
Bilder © Pixabay
Dr. Peter Iwaniewicz

Dr. Peter Iwaniewicz

Peter Iwaniewicz ist Biologe, Journalist und Kulturökologe. Er unterrichtet an der Universität Wien Wissenschaftskommunikation und ist Autor zahlreicher Bücher.
Kommentare  
# Kathrin Codie Leitne 2021-01-07 10:49
Es heißt im engl. Original "Survival of the fittest". Das bedeutet soviel wie "Überleben des best- angepassten". Von "to fit".
Leider wurde er inkorrekt übersetzt,-vl absichtlich? Es gab damals viel Gegenwind von der Kirche. Und Darwins' Lehre wurde falsch zitiert und als Vorwand benutzt um "Schwächere" zu marginalisieren.
Heute wissen wir, dass Empathie wesentlich zum Überleben beiträgt.
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