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Diskurs

Wer ist der Attentäter von Oslo, Anders Behring Breivik? Wie wurde er zu einem Massenmörder? Welche psychologischen Mechanismen arbeiten in solch einem Menschen?

Die Notwendigkeit, mich beim Schreiben dieses Textes erstmals einem inneren affektiven Widerstand entgegenstellen zu müssen, erinnerte mich an Situationen in den Anfangsjahren meiner Arbeit in der Akut- und Notfallmedizin, in der ich über viele Jahre hinweg tätig war: Junge Ärztinnen und Ärzte müssen dort lernen, trotz heftiger aversiver Affekte, die der Anblick medizinischer Notfallsituationen auszulösen vermag, eine rationale Einschätzung vorzunehmen und sinnvoll zu handeln. Gleichzeitig sollen sie sich aber auch ihre Fähigkeit zum Mitgefühl bewahren. Auch dann, wenn Anders Behring Breivik bei seiner verbrecherischen Tat am 22. Juli 2011 durch Polizeikugeln verletzt worden wäre (was nicht der Fall war), hätten ihn Ärzte optimal versorgen müssen. Ich möchte im Folgenden versuchen, mich sozusagen in einer solchen ‚ärztlichen' Haltung diesem Mann und seiner abstoßenden, unmenschlichen Tat zu nähern.

Voraussetzungen einer rationalen Reaktion: Zur Einschätzung des Täters und der Tat

Anders Behring Breivik setzte, nachdem er mit einer Autobombe in der Nähe des Regierungssitzes im Stadtzentrum Oslos acht Menschen getötet hatte, auf eine nahe gelegene Insel über, die der regierenden sozialdemokratischen Partei Norwegens seit Jahrzehnten als Jugend-Ferienlager dient. In der Uniform eines Polizisten auftretend, rief er Jugendliche zusammen und begann dann, auf sie zu schießen, wobei er, eine bizarre Freude zeigend, 69 von ihnen tötete. Kurz vor seiner Tat hatte der 32-jährige Täter ein umfangreiches ‚Manifest' über das Internet versandt, an dem er seit Jahren gearbeitet hatte und mit dem er seine sorgfältig geplante Tat in einen politischen Kontext stellte.

Ein monströses Verbrechen dieser Größenordnung ist mehr als die massenhafte Auslöschung von Leben. Seelisch durchschnittlich gesunde Menschen sind empathische Lebewesen. Wir fühlen nicht nur den eigenen, sondern auch den Schmerz unserer Mitmenschen. Deshalb fühlen sich durch die Tat Breiviks Hunderte Millionen von Europäern getroffen. Diese Tat war und ist ein Anschlag auf das friedliche zivile Zusammenleben schlechthin. Da wir spüren, dass die Tat, da sie jeden hätte treffen können, uns alle betrifft, fühlen wir nicht nur Affekte wie Trauer, Schmerz, Ekel und Zorn. Wir fühlen uns auch herausgefordert zu reagieren, indem wir versuchen herauszufinden, ob und wie einer Wiederholung begegnet werden kann.

Voraussetzung einer rationalen Reaktion ist eine vernünftige Einschätzung des Täters und seiner Tat. Was also waren und sind die angeblichen und tatsächlichen Motive, was hatte und hat diese Tat zu bedeuten? Drei Einschätzungen stehen zur Wahl: (1) War die Tat eine politische Aktion und wenn ja, mit welchem Hintergrund und welchen Zielen? Oder war sie (2) Ausdruck des Verhaltens einer psychisch gestörten Person und wenn ja, welche Störung lag vor, wie ist sie begründet und bedeutet sie, dass der Täter strafrechtlich nicht belangt werden kann? Oder sind (3) Taten dieser Art rational nicht erklärbar, sondern Teil einer mystischen Gewalttendenz, die ‚ganz normale Menschen' in regelmäßigen Abständen solche Taten begehen lässt? Ich möchte hier versuchen darzulegen, dass alle drei Deutungsansätze berechtigt sind. Vielleicht ist es gerade die Mehrdeutigkeit dieses Verbrechens, die uns allen solche Mühe macht.

Die politische Dimension

Das kurz vor der Tat versandte ‚Manifest' des Täters zeigt, dass es Anders Behring Breivik wichtig war, seine Tat politisch zu definieren. Die Frage ist, ob wir ihm dabei folgen sollten oder ob wir, wenn wir ihm hier folgen, einem Größenwahnsinnigen auf den Leim gehen. Eine Tat wird noch lange nicht zu einer politischen, nur weil ein Täter sie als politisch definiert. Das Thema, mit dem sich Breivik seit Jahren auseinandersetzte, war die von ihm explizit formulierte Angst vor der Auflösung einer patriarchalischen Ordnung, die der Täter zum Kern einer ‚europäischen Kultur' erklärte. Gefährdet sei diese Ordnung durch ‚Multikulturalismus', konkret durch eine Überfremdung durch islamische Einwanderer.

Bemerkenswert ist, dass sich der Hass Breiviks – und seine Tat – nicht gegen die von ihm abgelehnten Einwanderer selbst richtete, sondern gegen jene Mehrheit seiner norwegischen Landsleute, die den Einwanderern tolerant oder indifferent gegenüberstanden und -stehen. Fremdenfeindlichkeit war das zentrale Thema der von Carl Hagen gegründeten norwegischen Fortschrittspartei. Im Jahre 1997, im Alter von 18 Jahren, wurde der Täter dort Mitglied. Interessant ist, dass Breivik – nach immerhin zehn Jahren Mitgliedschaft – die Partei verließ, kurz nachdem der Parteivorsitz im Jahre 2006 von Carl Hagen auf seine Nachfolgerin Siv Jensen übergegangen war. Sie war nicht nur eine Frau (zur Angst vor weiblicher Macht siehe unten), sondern verfolgte einen moderateren Kurs als ihr Vorgänger.

Nach seinem Parteiaustritt im Jahre 2007 fand Breivik seine weitere politische Heimat in den virtuellen Räumen des Internets, wo er sich insbesondere als ‚Blogger' an fremdenfeindlichen Diskussionsforen beteiligte. Ab 2008, so der Täter, habe er vollzeitlich an seinem Manifest gearbeitet. Zusammenfassend kann, was die politische Sozialisation Breiviks angeht, also festgehalten werden, dass er sich über Jahre in einem fremdenfeindlich eingestellten Umfeld bewegte, welches auf eine klare Abgrenzung zwischen ‚Wir' und ‚Denen', zwischen (guter) ‚Ingroup' und (böser) ‚Outgroup' abzielte und Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit förderte. Vor diesem Hintergrund sollte der von Breivik erwähnte und als prägende Lernerfahrung eingeschätzte Einfluss nicht unterschätzt werden, den ein intensives Training von Kriegs- und Killerspielen auf ihn gehabt habe.

Die persönliche Dimension

Anders Behring Breivik wurde am 13. Februar 1979 als Sohn eines Diplomaten und einer Krankenschwester geboren. Für beide Eltern war es die zweite Ehe. Das erste Lebensjahr verbrachte Breivik in London. Als der Säugling etwa ein Jahr alt war, ließen sich die Eltern scheiden. Der Vater verlangte das Sorgerecht, welches jedoch der Mutter zugesprochen wurde, so dass Breivik mit ihr und einer älteren Halbschwester aufwuchs. Seine Schulausbildung schloss Breivik auf einer Handelsschule ab.

In seinem Manifest spricht Breivik vorwurfsvoll von einer ‚superliberalen, matriarchalischen Erziehung', die ihn ‚zu einem gewissen Grade feminisiert' habe. Die Mutter sei eine moderate Feministin gewesen. Bis zu seinem 16. Lebensjahr hatte Breivik regelmäßigen Kontakt zu seinem als Pensionist in Südfrankreich lebenden Vater. Mit etwa 15-16 Jahren habe er begonnen, in Oslo abends ‚herumzuhängen'. Breivik erzählt in seinem ‚Manifest', er habe damals in einem ‚Krieg' systematisch elektronische Fahrscheinautomaten der öffentlichen Verkehrsbetriebe Oslos beschädigt. Als er als Graffiti-Sprayer gefasst und polizeilich erfasst wurde, habe der Vater den Kontakt zum Sohn abgebrochen und ihn seither (also in den letzten 16 Jahren) nicht mehr gesehen.

Bei der Musterung (die etwa im 18. Lebensjahr stattgefunden haben dürfte) wurde Breivik als ‚unfit for service', also untauglich eingestuft. Im Jahre 2000, in seinem 21. Lebensjahr also, unterzog sich der junge Mann einer Schönheitsoperation, in der er sich Stirn, Nase und Kinn richten ließ. Von 2005 bis 2007 war Breivik in einem Schützenverein (‚Oslo Shooting Club') aktiv, dem er sich 2010 nochmals anschloss. Breivik hatte keine Freundinnen, nur einmal habe er sexuellen Kontakt gehabt. Abgesehen von seinen virtuellen Internet-Kontakten hatte Breivik auch keine persönlichen Freunde. Er sei, so eine Freundin der Mutter, immer extrem einsam gewesen. Beruflich ging Breivik zwischen dem 18. und 32. Lebensjahr wechselnden, unsteten Beschäftigungen nach, wobei er – als Selbstständiger – mehrfach erwirtschaftete größere Beträge wieder verlor.

Zusammenfassend ergibt sich das Bild eines in seiner Identität und hinsichtlich seines Selbstwertes zutiefst verunsicherten, bindungsarmen und einzelgängerischen jungen Mannes. Vaterdefizit (mit zusätzlicher faktischer Zurückweisung durch den Vater), schwere Selbstwertprobleme (siehe die Schönheitsoperation im 21. Lebensjahr), das Misslingen einer männlichen Identifikation und die Angst vor Feminisierung wurden zu einer bestimmenden Determinante. Getrieben von tiefer Angst vor Verweiblichung (vermutlich auch vor Homosexualität) entwickelte der verunsicherte junge Mann kompensatorische ‚Männerfantasien' (im Sinne von Klaus Theweleit): Mit Waffenverliebtheit und seiner Mitgliedschaft in Männerbünden (u.a. bei einer Freimaurerloge und einem ‚Templerorden') versuchte Breivik zu ersetzen, was das reale Leben ihm verweigert hatte.

 

Anders Breivik

 

Die Entstehung einer krankhaften Idee

Kann die politische Sozialisation Breiviks die Tat des 22. Juli 2011 erklären? Diese Frage ist zu verneinen. Kann die persönliche Biografie des Täters erklären, warum der 32-Jährige in einer lange vorbereiteten Aktion 77 Menschen um ihr Leben brachte? Allein aus dem Lebensweg ergibt sich m. E. keine hinreichende Erklärung. Ein entscheidender Faktor dürfte jedoch das fatale Zusammenspiel einer biografischen (Fehl-)Entwicklung mit einem zur Biografie des Täters in Resonanz tretenden spezifischen politischen Milieu gewesen sein. Das Spezifische des ausländerfeindlichen politischen Milieus, in dem sich Breivik seit seinem 18. Lebensjahr bewegte, war, dass es die persönlich-biografischen Ängste und Bewältigungsversuche des Täters zurückspiegelte und damit sozusagen doppelte.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 77: „Meditation"

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Was Breivik als persönliche Not erlebt hatte und erlebte (Bindungsunsicherheit, fehlende persönliche Wertschätzung, vor allem aber die väterliche Zurückweisung und fehlende Spiegelung seiner männlichen Identität), wurde ihm vom politischen Milieu, das er sich gewählt hatte, als politisches Konzept (inklusive Feindbild) verstärkend zurückgespiegelt: Rückkehr zur ‚guten alten' patriarchalischen Ordnung, Ablehnung des Feminismus, Beendigung einer als Toleranz getarnten Libertinage sowie Rettung der eigenen Identität durch feindselige Abwehr einer befürchteten Überfremdung. So entstand in dem jungen Mann über Jahre hinweg eine pathologische Idee. Die Kennzeichen dieser Idee sind zum einen Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung (der Fachbegriff wäre ‚maligner Narzissmus'), zum anderen die wahnhafte (paranoide) Überzeugung, Europa vor seinen angeblichen Feinden durch einen ‚Krieg' retten zu müssen.

Das von Anders Behring Breivik begangene Verbrechen ist die Tat eines psychisch schwer gestörten Mannes. Ohne jede Frage liegt beim Täter eine schwere narzisstische und paranoide Persönlichkeitsstörung vor. Zusätzlich dürfte die jahrelange mentale Vorbereitung der Tat, insbesondere aber das mit der intensiven Bedienung von Kriegs- und Killerspielen verbundene ‚mentale Training' eine Funktionsstörung im Stirnhirn liegender Nervenzell-Netzwerke herbeigeführt haben, die als ‚moralische Kontrollzentren' unseres Gehirns fungieren. Damit wären auch die Voraussetzungen für das Vorliegen einer sogenannten Psychopathie (bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung) erfüllt. Die genannten Störungen bedeuten jedoch keinesfalls, dass eine Schuldunfähigkeit vorliegt. Obwohl der Täter regelmäßig Aufputschmittel wie Ephedrin nahm (um seine Aggressivität absichtlich zu steigern) und während der Tat unter der Wirkung eines Medikamentencocktails stand, ist er aus meiner Sicht als schuldfähig einzuschätzen.

Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Taten wie jene, die am 22. Juli 2011 77 Menschenleben auslöschte, werden sich in der realen Welt, in der wir nun einmal leben, niemals sicher ausschließen lassen, doch können wir eine Menge tun, die Wahrscheinlichkeit solcher Taten zu mindern. Ich sehe vor allem zwei Ansatzpunkte: Zum einen müssen wir die Notwendigkeit, dass Kinder und Jugendliche Bindungen – und Jungen liebende Väter – brauchen, noch ernster nehmen als bisher. Zum anderen sollten wir uns noch entschiedener als bisher politischen Milieus entgegenstellen, die ihre Geschäfte mit der Angst vor Fremden und mit Fremdenfeindlichkeit machen.

 

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer, ist Arzt, Neurobiologe, Psychotherapeut, Professor am Uniklinikum Freiburg/Breisgau, ärztlicher Direktor der Hochgrat-Klinik für Psychosomatik im Allgäu sowie erfolgreicher Buchautor: " Das Gedächtnis des Körpers", "Prinzip der Menschlichkeit", "Warum ich fühle, was du fühlst"

 

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut. Er lehrt am Uniklinikum Freiburg, wo er als Oberarzt an der Abteilung Psychosomatische Medizin tätig ist. Bauer publizierte vielbeachtete Sachbücher.
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